Die Rolle des Elsass in der europäischen Geschichte nahm den zentralen Teil der Lesung im « Theater der 2 Ufer » ein. Zudem wurde einer prominenten elsässischen Persönlichkeit gedacht.
Anlässlich des „Mois de l’Europe“ luden am Freitag die Gesellschaft A livre ouvert/Wie ein offenes Buch, der Mouvement des jeunes européens, die René-Schickele-Gesellschaft und das Theater der 2 Ufer das Publikum von beiden Ufern des Rheins zu einer Lesung mit Musik ein. Zugleich wurde René Schickele an seinem 140. Geburtstag gedacht. Gefördert wurde die Veranstaltung von der Stadt Straßburg anlässlich des „Mois de l’Europe“.
Schickele und Ungerer
Vorgetragen wurden vorwiegend politische Texte von René Schickele, aber auch von anderen prominenten elsässischen Autoren wie André Weckmann und Tomi Ungerer. Umrahmt wurde die Lesung von Chansons, in einem wundervollen Spagat zwischen der Lebhaftigkeit des Entertainers und Stimmchamäleons Patrick Labiche und der Melancholie und Introvertiertheit von Francois Wolfermann. Begleitet wurden sie abwechselnd von Christian Lorin (Klavier), Anita Pirman (Melodica) und dem Virtuosen Jean-Michel Eschbach (Akkordeon).
Die Vorleserinnen Marianne Gerber, Maria Ioannou, Silke Kreutzer-Bréhier und Aline Martin zogen das Publikum in ihren Bann mit einer guter Inszenierung und den zum Teil ausdrucksstarken Rezitationen auf Deutsch, Französisch, Griechisch und Spanisch – wobei die Inhalte berührten und nachdenklich machten. Es ging dabei um das Schicksal des Elsass als Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich, um die kulturelle Identität, um Krieg, aber auch um den großen Traum früherer Generationen vom Frieden auf beiden Seiten des Rheins und die Vorzüge eines vereinten Europas.
René Schickele war eine elsässische Persönlichkeit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Dichter, Journalist und Politiker setzte er sich aktiv für die Verständigung und Frieden zwischen Frankreich und Deutschland ein – und zugleich für die Interessen der Region Elsass. Er gab mehrere literarische Publikationen heraus, darunter auch „Die Weißen Blätter“, die durch ihn zu einer der wichtigsten Zeitschriften des Expressionismus wurde. Schickele war ein Pazifist und träumte wohl auch von einem vereinten Europa. In seinem im Theater der 2 Ufer vorgetragenen Text „Der Mensch im Kampf“, welcher in « Die Weißen Blätter“ im April 1916 erschien, trauerte er um seine Schriftsteller-Freunde und Gleichgesinnten, die im ersten Weltkrieg gefallen waren, und äußerte sich zum Ideal eines Europas als gemeinsame, einzige Heimat: „Ich neige mich tief vor Charles Peguy und beweine Ernst Stadler. (…) Sie waren Freunde – Peguy, der politischer Mensch, Stadler, der menschlichere Politiker. Und die Politik, die nicht die ihre war, stellte sie als feindliche Offiziere einander gegenüber. In der weiten Erde Europas liegen sie vereint und sind ein einziger Glaube an die Zukunft ihrer großen Heimat. Wir brauchen nur treu zu sein und zu glauben.“
Eifersüchtige Nachbarn
Als Gegenpol dazu standen Tomi Ungerers Aphorismen, in denen er sich verbittert zum Schicksal seiner Heimat Elsass äußerte: « Dem Elsässer ist das Wort ,Heimat’ lieber als ,Vaterland’. Die Kinder der Mutter Elsaß, ständig von zwei eifersüchtigen Nachbarn abwechselnd vergewaltigt und gehätschelt, leiden an ihrer Identität: Franzosen? Deutsche? Das Elsaß zeigt sich wie eine Kaiserschnittnarbe auf der Landkarte Europas, jetzt schön geflickt. Zwei Nationen wurden zusammengenäht, die sich seit Jahrhunderten um dieses Schlaraffenland gezankt haben.”
Davon war allerdings auf der Bühne des Theaters der 2 Ufer nichts zu spüren – sondern man erlebte Internationalität und Friedfertigkeit, Freundschaft und Freude. Viel Freude beim ästhetischen Genuss.
[Original-Artikel: https://www.bo.de/lokales/kehl/darum-ging-es-bei-der-lesung-im-kehler-theater-der-2-ufer]